Die Bürokratie ist unerträglich geworden

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Berlin (pm). Bei der Bürokratiebelastung sieht ZDH-Präsident Dittrich jedes erträgliche Maß überschritten: Im Gastbeitrag für die "Welt am Sonntag" fordert er die politisch Verantwortlichen auf, endlich für Entlastung und eine praxistauglichere Gesetzgebung zu sorgen.

Der Staat regiert selbst in die kleinsten Dinge des Alltags hinein. Das lähmt die Wirtschaft und nervt die Bürger, meint Handwerkspräsident Jörg Dittrich.

Viele Menschen sind in Sorge. Sie fragen sich, wie sie den Hauskredit stemmen können, ob eine Wärmepumpe finanzierbar ist und ob das Geld, das der Staat ihnen lässt, noch für den Sommerurlaub reicht. Und das ist längst kein Randphänomen mehr. Die Verunsicherung ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Sorgen und Verunsicherung gibt es auch im Handwerk. "Wie lange will ich mir die Bürokratie noch antun?" – "Warum erdrückt uns die Politik mit Steuern und Sozialabgaben?" – "Gibt es einen Grund, warum meine Azubis schlechter behandelt werden als Studenten?" – "Soll ich meinen Kindern noch empfehlen, in die Verantwortung der Selbständigkeit zu gehen?" Das sind Sätze, die man im Handwerk immer häufiger hört.

Die Bürokratie zwingt unsere Betriebe mittlerweile zu einem Handeln, das nicht das ihre ist. So muss zum Beispiel jeder Arbeitsplatz danach beurteilt werden, inwiefern er für schwangere Frauen geeignet ist. Keine schlechte Idee, könnte man meinen. Aber diese umfangreiche Dokumentationspflicht zur Gefahrenlage für Schwangere wird auch dann verlangt, wenn die Stelle mit einem Mann besetzt ist. Auch Anzeigepflichten machen uns zu schaffen. Beispielsweise müssen Abfalltransporte selbst dann behördlich gemeldet werden, wenn die Abfälle völlig ungefährlich sind. Diese Vorschrift kostet Gebühren und Zeit – und gehört in die Tonne. Auch die Regeln zur Bestellung von Datenschutzbeauftragten scheinen in Absurdistan gemacht worden zu sein. Betriebe mit 20 Beschäftigten müssen zwingend einen Datenschutzbeauftragten bestellen. Das gilt selbst für Handwerksbetriebe, bei denen sich die Datenverarbeitung auf die Anfertigung von Kostenvoranschlägen und Rechnungen beschränkt und damit kaum eine Rolle spielt. Das führt nicht nur zu Kosten für Schulungen, sondern raubt der bestellten Person wichtige Zeit, die sie für ihre eigentliche Arbeit braucht.

Empfunden wird dies als Übergriffigkeit in die unternehmerische Tätigkeit und Freiheit. Es ist eine Illusion, den Wandel mit dem Mindset von Helikopter-Eltern zu gestalten. Man muss den Menschen mehr Freiheiten lassen. Sicher: Wer mitspielt, ob beim Fußball oder in der Wirtschaft, läuft immer Gefahr, hinzufallen oder zu verlieren. Manchmal wird auch gebolzt. Aber es gibt dann auch die Momente, wo der Ball ins Tor geht.

Im Moment laufen viele Betriebe noch gut. Einige expandieren sogar. Aber es gibt in jeder Firma auch Zeiten, in denen es mal nicht so gut läuft. Nur helfen einem im Moment des Strauchelns eben auch keine bürokratischen Vorschriften. Im Gegenteil: Die Illusion der staatlichen Vollkasko-Kontrolle schnürt den Betrieben die Luft zum Atmen ab. Die naive und sicher gut gemeinte Intention der Bürokratie, Gleichheit und Nachvollziehbarkeit im Wettbewerb herzustellen, verkehrt sich ins Gegenteil und sorgt dafür, dass es am Ende allen Betrieben gleichermaßen schlechter geht. Das merken nicht nur die Inhaber, von denen einige verzweifelt hinschmeißen, sondern auch die Menschen, deren Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates schwindet. Denn sie erleben eine Politik, die mit ihrem Bürokratismus und ihrem Mikromanagement krachend scheitert und deren Ansinnen, die Kräfte des Wandels mit Formularen einzuhegen, zu einer noch größeren Unwucht führt. Das Gefühl des "betreuten Lebens" erzeugt keine Sicherheit, sondern Frust.

Diese Diskrepanz zwischen dem Versprechen der Bürokratie und dessen desillusionierenden Konsequenzen nutzen Populisten aus, die jedes Scheitern wittern, und die dann mit billigen Tricks, manchmal auch mit Hass, Stimmung machen, um Stimmen zu gewinnen. Wir müssen uns eingestehen, dass Unsicherheiten durch Bürokratie nicht verschwinden, dass wir mit diesen Unsicherheiten – beispielsweise bei der fortschreitenden Digitalisierung oder der Weltpolitik – leben müssen. In der Auseinandersetzung mit denjenigen, die die Demokratie bekämpfen, gibt es kein Patentrezept. Es ist eher ein Maßnahmenkatalog, den es braucht und in dem der Bürokratieabbau nicht fehlen darf. Das vierte Bürokratieentlastungsgesetz greift hier viel zu kurz. Notwendig ist ein Paradigmenwechsel, ein grundsätzliches Umdenken mit drei Konsequenzen.

Erstens: Sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene gilt es, die schiere Menge an Gesetzen und Regeln zu reduzieren. Die Masse an Formularen, an Berichts- und Dokumentationspflichten hat ein Ausmaß erreicht, bei dem wir nicht mehr weiterkommen mit der "One in, one out"-Regel: dass für jede neue belastende Maßnahme eine andere Pflicht gestrichen werden muss. Wir müssen bei der Bürokratie stärker auf die Bremse treten und eine "One in, two out"-Regel etablieren: Für jede neue Maßnahme müssen zwei andere Pflichten gestrichen werden. Dann würde die Bürokratie schrumpfen.

Neben diesem quantitativen Ansatz müssen, zweitens, die Gesetze in ihrer Qualität besser werden. Sie müssen am Bedarf der Betriebe ausgerichtet sein. Praxis-Checks im Vorfeld von Gesetzgebungsverfahren stellen genau das sicher. Durch sie zeigt sich, ob eine neue Regelung den Stresstest im Betriebsalltag besteht. Drittens müssen wir das Tempo aus der Gesetzgebung herausnehmen. Gesetzesänderungen sollten nur noch an zwei Stichtagen im Jahr, zum Beispiel am 1. Januar und am 1. Juli, in Kraft treten dürfen. Das erspart den Betrieben die ständige Beschäftigung mit Rechtsfragen. Und zwischen der Verabschiedung und dem Inkrafttreten eines Gesetzes braucht es eine Mindestfrist, damit sich die Betriebe auf die Umsetzung vorbereiten können.

Diesen Dreiklang aus weniger und praxistauglicheren Gesetzen sowie mehr Zeit bei der Umsetzung ist etwas, wofür ich bei der Politik werbe. Und doch bin ich manchmal überrascht, wenn ich gefragt werde, wie denn dieser Bürokratieabbau ganz konkret und im Detail aussehen soll. Denn für mich gilt hier das Verursacherprinzip. Die Exekutive hat, vom Parlament getragen, über Jahrzehnte viele Gesetze und Verordnungen verfasst – oft gegen den erklärten Willen der Wirtschaft. Es sind deshalb Exekutive und Parlament, die jetzt in der Pflicht stehen, Bürokratie abzubauen.

Das Handwerk erbringt Handwerksleistungen. Wenn diese mangelhaft sind, muss man nachbessern. Die Politik ist aufgefordert, die Übertreibungen der Bürokratie wegzuräumen. Das nennt man Arbeitsteilung.

Quelle: zdh.de/presse/

Der Beitrag erschien zuerst in der WELT AM SONNTAG vom 16. Juni 2024.

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